... ist immer noch die am meisten verachtete, verzerrte, verzeichnete Epoche unserer Geschichte. Eine Epoche, begraben unter Lügen und Klischees, die einmal, im 18. Jahrhundert, erfunden wurden, um die Gegenwart in desto leuchtenderen Farben zeichnen zu können. Und diese Funktion hat sie auch heute noch. Wir brauchen das "finstere Mittelalter", um uns einreden zu können, daß wir selber im Licht leben.
Aber ist das so? Ist die Moderne wirklich so hell und das Mittelalter wirklich so düster, wenn all die Weltkriege und Massenvernichtungswaffen, all die Genozide und Säuberungsaktionen, all die Gifte und Perversitäten der Forschung, all die Krankheiten des Denkens, die allein die letzten hundert Jahre hervorgebracht haben, in tausend Jahren Mittelalter keine Entsprechung finden? Und sollte man ein so fernliegendes Zeitalter wirklich mit unserem Maß messen dürfen, wenn es doch offensichtlich ist, daß es seine eigenen Maßeinheiten hatte, daß es andere Ideale, andere Ziele, andere Sichtweisen und Denkarten hatte als wir?
Nein, man kann das übliche triadische Weltbild, wo zwischen den Gipfeln von Antike und Neuzeit der Abgrund des Mittelalters dräut, um 180 Grad drehen und wird der Wahrheit sehr viel näher kommen: Das Mittelalter ist der eigentliche Höhepunkt der europäischen, wenn nicht gar der menschlichen Zivilisation! Das Mittelalter war es, das all jene Ideale, Werte und Grundrechte entwickelt hat, die westliche Politiker anzumahnen pflegen, wenn sie autoritär regierte Länder besuchen, jene Werte, die die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bilden. Noch viel fundamentaler: Das Mittelalter – oder genauer gesagt: die mittelalterliche Kirche – hat in jahrhundertelanger Arbeit die Empfindung von einem elementaren Recht auf Leben in das Denken und Fühlen der Menschen eingepflanzt, das es vorher gar nicht gab, eine ins kollektive Unterbewußtsein fest eingeprägte Pietät gegenüber dem Leben des Nächsten, die die römischen Legionäre sicher nicht empfunden haben. Das Mittelalter hat eine Kultur der Caritas geschaffen, ohne die der moderne Sozialstaat mit seiner Fürsorgepflicht nicht denkbar wäre und von der weder die griechischen Philosophen noch die römischen Senatoren etwas wußten, und wer immer heute soziale Gerechtigkeit einfordert oder das Prinzip „Eigentum verpflichtet“ anmahnt, der beruft sich auf die mittelalterliche Vorstellung von Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit.