Wir sehen uns nicht, außer im Spiegel ...

Man macht sich nur selten bewußt, daß man sich niemals von außen betrachten kann, außer mithilfe eines reflektierenden Mediums - und das verkehrt gewöhnlich die Seiten. Für den Leser werden Bücher zum Spiegel, in dem er sich selbst erkennt - dadurch, daß er die Lektüre erkennt.

Nach Fertigstellung meiner Dissertation, für die ich Unmengen von Sekundärliteratur durchgearbeitet hatte, empfand ich das Bedürfnis nach einem möglichst spontanen Zugang zur Literatur, unverzerrt durch die Masken und Methoden der Wissenschaft. Ich legte darum ein Lektüretagebuch an, in das ich möglichst unmittelbar die Eindrücke notierte, die das Gelesene auf mich machte.

 

Von Mitte 1990 bis Anfang 2004 führte ich dieses Diarium, und die Spannweite reicht dabei von den tragenden Säulen der Weltliteratur bis zu Artikeln in Tageszeitungen und Zeitschriften. Die Eintragungen waren zunächst noch kurz und subjektiv, wurden mit der Zeit immer länger, ausladender, essayistischer, immer rationaler im formalen Zugang, aber immer subjektiver in der Beurteilung. Es ging nämlich nicht darum, die Klassiker "abzuarbeiten" und in ihrer Klassizität zu bestärken. Es ging darum, sich selbst zu finden in den Stimmen der Anderen. Und wenn das heißt, schlecht zu finden, was alle anderen gut finden - dann muß man auch dazu den Mut aufbringen. Man muß sein Urteil nur immer begründen können, sonst taugt es nichts.

 

Hier eine Beispieldatei mit zwei der umfangreichsten und wichtigsten Eintragungen, die erste aus reiner Begeisterung, die zweite aus reiner Empörung geschrieben:

Lektüretagebuch Herder, Wilson.pdf
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© Hargen Thomsen